Bis weit in die 2000er-Jahre hinein war die Hauptverbreitungsform für extremistische Inhalte und Orientierungen, die an Heranwachsende adressiert waren, noch an Musik geknüpft: Tonträger mit jugendaffiner Musik und Festivals zur Vernetzung der Szene waren die bevorzugten Mittel. Mit der zunehmenden Bedeutung von Onlinediensten zu Austausch, Vernetzung und Herstellung von Öffentlichkeit wurden von der neuen Rechten in den letzten Jahren immer mehr auch die Möglichkeiten von Social Media genutzt, um die eigenen Strategien anzupassen und die Verbreitung der
Radikalisierung in der Social Media Welt
Im Jahr 2022 bildeten Propagandadelikte mit 62 Prozent den größten Teil der rechtsextremistischen Straftaten in Deutschland (BMI 2022). Mittlerweile gelten Online-Plattformen als zentrale Kanäle bei der Verbreitung rechtsextremer
Jugendliche, bereits Kinder, sind über die Apps gut erreichbar und somit ein begehrtes Objekt der Radikalisierung. Sie sind „permanently online, permanently connected“ und können so immer und überall mit rechtsextremistischen Inhalten konfrontiert werden, ohne gezielt danach zu suchen (Vorderer 2015, S. 260). Ob sie es wollen oder nicht: Heranwachsende sind im Netz längst zu einer sehr wichtigen Zielgruppe rechtsextremistischer Propaganda geworden.
Die nutzergenerierten Inhalte auf Social Media-Plattformen sind nah an den Rezeptionsgewohnheiten und der Lebenswelt der jungen Nutzer*innen aufbereitet. Dadurch sinkt die Hürde, sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen und eine emotionale Verbindung zu ihnen aufzubauen (Manemann 2020). Zudem evozieren die für Social Media typischen Austauschformen sinkende Hemmschwellen für Grenzverletzungen aller Art und befördern seitens der Agierenden auch Radikalisierungsprozesse. Zentraler Hintergrund sind die Besonderheiten digitaler Kommunikation, die von zeitlicher, räumlicher und sozialer Entgrenzung, dem Fehlen eines direkten Gegenübers, der Kanalreduktion eines (nur) mit Text, Bild und Video Ausgetauschten und den (algorithmisierten) inhaltlichen Zuspitzungen von Filterkammern bzw. Echokammern gekennzeichnet sind. In diesem Zusammenhang kann es nicht verwundern, dass laut Verfassungsschutzbericht immer mehr minderjährige Akteur*innen bekannt werden, die innerhalb dieser
Da die Heranwachsenden ihre soziale und politische Identität gerade ausbilden, kann der Kontakt zur rechtsextremistischen Szene riskant sein und zur Desorientierung beitragen (Lehmann & Schröder 2021). Niedrigschwellig und lebensweltorientiert bietet die rechtsextremistische Szene jungen Menschen auf Social Media vermeintlich einfache Antworten auf komplizierte Fragen, was in Zeiten der Orientierungssuche eine besondere Attraktivität erhält. Die ‚einfachen‘ Strukturen und Regeln können ein Gefühl von Macht und Überlegenheit stärken (Schmitt et al. 2017, Reinemann et al. 2019, Lehmann & Schröder 2021). Dies kann den eigenen Einstieg in die rechtsextremistische Szene zu einer Zeit erleichtern, in der politische Denkstrukturen gebildet und eigene Informationszugänge etabliert werden, die bis ins Erwachsenenalter reichen (Krieg 2021).
Warum gerade TikTok?
Wie kein anderes mediales Angebot steht TikTok für niedrigschwelliges Ansehen, Aufnehmen, Bearbeiten und Teilen von Kurzvideos und wurde damit eine der neueren Erfolgsgeschichten im Social Web. Auch für Laien sind die Bearbeitungsmöglichkeiten geeignet, was ein zentraler Grund für den Erfolg der App ist (Guddat & Hajok 2020). Rechtsextremistische Akteur*innen können darüber also einfach und gezielt mit ihrer Zielgruppe in einen Austausch kommen. Auch der Aufbau der App spielt dabei eine Rolle. Auf der sogenannten „For You“-Page werden den Nutzer*innen individuelle,
Seit Ende 2019 hat die Bedeutung der App vor allem bei jungen Nutzer*innen stark zugenommen. Ende 2021 nutzte mit zehn, elf Jahren bereits gut ein Viertel der Kinder TikTok, mit zwölf, 13 Jahren gut die Hälfte und mit 14, 15 Jahren waren es schon fast zwei Drittel (Rohleder 2022). Im Jahr 2022 war TikTok bei jungen Menschen dann bereits die drittbeliebteste App auf dem Smartphone: Neben WhatsApp haben für Kinder nur YouTube und für Jugendliche nur Instagram einen noch höheren Stellenwert (MPFS 2022a, 2023).
Fake News auf TikTok
Die Plattform dient dabei nicht nur der Unterhaltung: Mit zunehmendem Alter spielt sie auch eine wichtige Rolle als Informationskanal. Jede*r vierte Jugendliche in Deutschland nutzt TikTok regelmäßig, um sich zum aktuellen Tagesgeschehen zu informieren. Damit liegt die Plattform hinter Suchmaschinen und Instagram auf Platz drei der genutzten Informationskanäle im Netz, die klassische Informationsmedien – wie Fernsehnachrichten, Zeitungen/Zeitschrift etc. – längst abgelöst haben. Mit ihren inhaltlichen Interessen sind die Jugendlichen an die großen Themen unserer Zeit gebunden: Im Jahr 2022 zeigten sich die mit Abstand meisten am Ukraine-Krieg und dem Klimawandel, knapp die Hälfte an der Corona-Situation und Vielfalt in der Gesellschaft (sehr) interessiert (MPFS 2022a).
Mit diesen eigenen Zugängen zu Informationen und Orientierung, bei denen Jugendliche nicht zuletzt auf ihre Social Media Kanäle setzen, kommen die meisten regelmäßig auch mit den gezielt dort ausgesteuerten manipulativen und extremen Botschaften in Kontakt. Im Frühsommer 2022 befragt, gab bei der JIM-Studie gut die Hälfte der 12- bis 19-Jährigen an, ihnen seien im letzten Monat Fake News im Internet begegnet. Jeweils gut zwei Fünftel hatten in diesem Zeitraum auch Kontakt mit extremen politischen Ansichten und Verschwörungstheorien, gut ein Drittel mit Hassbotschaften (ebd.). Hass und Hetze wird dabei vor allem beiläufig in Kommentaren und Social Media Posts wahrgenommen. Die Jüngeren, die 12- bis 16-Jährigen, nehmen Hatespeech vor allem auf TikTok wahr, gefolgt von YouTube und Instagram (MPFS 2022b). In diesem Gesamtzusammenhang haben Social Media allgemein und TikTok speziell eine zunehmende Bedeutung für die politische Sozialisation ihrer Nutzer*innen erlangt. Entsprechende Inhalte begegnen ihnen zunächst zwar eher zufällig und nebenbei über unterschiedliche Formate: beispielsweise in Meinungs- und Erklärvideos, Erfahrungsberichten, Videodokumenten. Wecken die Inhalte aber Interesse, werden sie „aktiv angeeignet, gelikt, geteilt oder kommentiert, was wiederum neue Videos zum Thema in die personalisierte Schleife spült und eine (vertiefte) persönliche Auseinandersetzung evozieren kann“ (Hajok & Wiese 2022, S. 20).
Propagandastrategien bei TikTok
Die Strategien von Rechtsextremist*innen auf TikTok sind genauso vielfältig wie die der Influencer*innen selbst. Sie unterscheiden sich in ihrer Reichweite, ihren Themen und ihrer Ästhetik sehr stark. Zusammengenommen erzielen rechte Akteur*innen auf der Plattform eine große Reichweite und wissen die Begebenheiten der App aktiv zu nutzen, um junge Menschen mit ihrer Ideologie zu erreichen (Jugendschutz.net 2023).
In der detaillierten Analyse ausgewählter Kanäle zeigt sich, dass Rechtsextremist*innen bei TikTok zur Vermittlung ihrer Botschaften eher auf positiv besetzte Emotionen (Stolz oder Zusammengehörigkeit) setzen als auf negativ konnotierte (Aggression, Wut oder Ärger). Offensichtliche Hassrede kommt in den geschickt mit jugendkulturellen Elementen wie Jugendsprachen oder Internetkultur verknüpften Clips demgegenüber relativ selten vor (Franke & Hajok 2022). Der teilweise verwendete Humor, wie er schon länger ein wichtiges stilistisches Mittel zur Überdeckung der rechten Propaganda im Netz ist, dient einer Verschleierung der eigentlichen Botschaft (Beyersdörfer et al. 2017).
Die meisten rechtsextremistischen TikToker*innen stellen sich als Teil einer eingeschworenen „deutschen“ In-Group dar. Andere werden als „nicht Deutsche“ abgewertet. „Das etablierte System“ im Sinne der aktuellen politischen Ordnung wird zum Feindbild konstruiert. Einerseits werden offen parteipolitische Verbindungen zur
Subtile Ansprache junger Nutzer*innen
Neben den rechtsextremistischen Kampfsport-Accounts und den Kanälen mit eindeutigem Parteibezug, gibt es rechte TikToker*innen, die sehr viel subtiler vorgehen. Sie sind jung und medienaffin. Sie orientieren sich an aktuellen Trends, tanzen und singen, präsentieren sich bewusst harmlos – und vermitteln nebenbei ihre Ideologie. Dafür wird sich der ganzen Bandbreite jugendaffiner Elemente der Social Media Welt bedient: GIFs, Memes, jugendaffine Schlagworte und trendige Hashtags dienen dabei auch der Verharmlosung der Inhalte (ebd., Lehmann & Schröder 2021). So gibt es beispielsweise Videos mit dem Hashtag #GRWM (Get ready with me).
Wie viele andere schminken sich auch rechte TikTokerinnen in ihren Videos oder erzählen ganz beiläufig von ihrer rechtsextremistischen Weltanschauung (pre:bunk 2023). Auffällig sind auch hier die stereotypischen Rollenklischees: Männlich gelesene Personen präsentieren sich als stark, soldatisch und muskulös. TikTokerinnen zeigen sich eher gemäß stereotypisierter Weiblichkeit – und werden in Kommentaren vermehrt mit Bezügen zu ihrer Äußerlichkeit bedacht. Relativ neu in der Szene ist die Bewegung der „Tradwifes“ – Frauen, die sich auf ihren Accounts für den Erhalt des traditionellen Frauenbilds stark machen (Rösch 2023).
Codes im rechtsextremistischen TikTok
Um einer Sperrung wegen Hassrede zu entgehen, wie sie laut „Community Richtlinien“ (TikTok 2023) verboten ist, werden meist rechtsextremistische Begriffe und eindeutige Codes und Emojis vermieden. Häufig werden Emojis in den Farben der Reichsflagge (Abfolge von schwarzen, weißen, roten geometrischen Formen) verwendet. Auch Adler oder Deutschlandfahnen deuten auf eine Verbindung zum Rechtsextremismus hin. Kommt es dennoch zu einer Sperrung der Accounts, erstellen die Creator*innen zur Verbreitung ihrer Ideologie neue Accounts oder es gibt Kanäle von Dritten, die ihre Inhalte erneut posten.
Viele rechte TikTok-Accounts verweisen außerdem direkt auf andere Plattformen und Dienste. Das deutet darauf hin, dass TikTok oft nur als Erstkontakt bzw. Erstzugang zu den überwiegend jungen Nutzer*innen der Plattform genutzt wird, um gerade sie in die geschlosseneren Kommunikationsräume etwa von Discord und Telegram zu locken. Der Öffentlichkeit entzogen lassen sich hier rechtsextremistische Einstellungen (noch) offener äußern und der Kontakt zu den jungen Nutzer*innen intensivieren (Franke & Hajok 2022). Mögliche Radikalisierungsprozesse entziehen sich dann auch weitestgehend einer angemessenen Intervention.
Hohes Potenzial zur Radikalisierung
Vor dem Hintergrund einer „Participatory Culture“ (Jenkins 2016) sind es gerade die auf kreativen Austausch basierenden, über den bloßen Online- bzw. Hashtagaktivismus („Slacktivism“ oder „Clicktivism“) hinausgehenden niederschwelligen Interaktionsformen, die bestimmten politischen Botschaften mehr Reichweite verschaffen. Dies führt dazu, dass sich auch rechtsextremistische Akteur*innen gezielt der anbieterseitig angelegten Möglichkeiten wie den Videobearbeitungswerkzeugen bedienen, um ihre TikToks zu erstellen und – orientiert an den Aneignungsweisen der jungen Nutzer*innen – aktiv zur Verbreitung ihrer Propaganda nutzen.
Gerade im Hinblick auf eine jugendaffine Verbreitung rechtsextremistischer Ideologie wird der App schon länger ein hohes Potenzial an Desinformation und Radikalisierung zugesprochen, dem mit offiziellen Hinweisen an die Plattform alleine nicht beizukommen ist (Jugendschutz.net 2021). Für eine frühzeitige präventive Arbeit mit den jungen TikTok-Nutzer*innen ist es unerlässlich, die neuen Strategien in den kritischen Blick zu nehmen, sowohl was die Bild-, Ton- und Textebene an sich als auch die Bildunterschriften und Kommentare anbetrifft.